Österreichischer Verfassungsgerichtshof

Datum: 12.12.1987

Nummer: 11585

Geschäftszahl
G55/87,G56/87,G57/87,G58/87

Norm 
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität; B-VG Art140 Abs5 / Fristsetzung; AmtssprachenV (Slowenisch), BGBl 307/1977; VoGrG §1 Abs3; VoGrG §2 Abs1 und Abs2; StV von Wien Art7 Z3 erster Satz; VoGrG §13 Abs1 und Abs2; VoGrG §24 Abs4; StV von St Germain Art66 Abs4; 

Rechtssatz
Unmittelbare Anwendbarkeit des Art7 Z3 erster Satz
Staatsvertrag von Wien (StV Wien); in den darin bezeichneten
Gebieten kann sich jedermann, der in der Sprache der Minderheit
bedienten; aus Zweckmäßigkeitsgründen ergangene
Ausührungsbestimmungen (in Gesetzes- oder Verordnungsform) nehmen
der Staatsvertragsbestimmung nicht den Charakter der
unmittelbaren Anwendbarkeit in jenen Bereichen, die nicht von
Ausführungsbestimmungen umfaßt sind; insoweit das VolksgruppenG
die sich aus dem StV Wien für die Minderheiten ergebenden Rechte
wiederholt, ist es als AusführungsG zum StV Wien zu werten und
steht mit diesem nicht in Widerspruch; Widerspruch der in §13
VolksgruppenG vorgesehenen Regelungen, die die Verwendung der
koratischen Minderheitensprache in Gebieten mit kroatischer oder
gemischter Bevölkerung ausschließen, solange keine V nach §2
Abs1 Z3 erlassen ist, zu Art7 Z3 StV Wien; Aufhebung von
Besimmungen in §13 wegen der besonderen Bedeutung des StV Wien
und des in Art7 gewährten Minderheitenschutzes keine Fristsetzung


Bei der Beurteilung der Frage, ob den vom Geltungsbereich der
nach §2 Abs1 Z3 VolksgruppenG erlassenen Verordnung über die
Bestimmung der Gerichte, Verwaltungsbehörden und sonstigen
Dienststellen, vor denen die slowenische Sprache zusätzlich zur
deutschen Sprache als Amtssprache zugelassen wird, BGBl.
1977/307, nicht erfaßten Beschwerdeführern zu Recht der Gebrauch
der kroatischen Sprache in den Administrativverfahren verweigert
wurde, hat der Verfassungsgerichtshof auch die in Prüfung
gezogenen Stellen der Abs1 und 2 des §13 VolksgruppenG
anzuwenden, weil diese Normen den Gebrauch der
Volksgruppensprache als Amtssprache nur unter gewissen
Voraussetzungen gestatten.

Daran ändert auch §24 Abs4 des VolksgruppenG nichts, da es
auch vor Erlassung des VolksgruppenG kein Gesetz und keine
Verordnung über die Zulässigkeit der Verwendung des Kroatischen
als Amtssprache gab.

Art7 Z3 erster Satz des Staatsvertrages von Wien geht über die
Norm des Art66 Abs4 des Staatsvertrages von St. Germain,
StGBl. 1920/303, hinaus, der bestimmte, daß den nicht deutsch
sprechenden österreichischen Staatsangehörigen bloß angemessene
Erleichterungen beim Gebrauch der Minderheitensprache zu bieten
sind. Der Staatsvertrag von Wien normiert, daß in den
Verwaltungs- und Gerichtsbezirken der Bundesländer Kärnten,
Burgenland und Steiermark mit slowenischer, kroatischer oder
gemischter Bevölkerung die slowenische oder kroatische Sprache
zusätzlich zum Deutschen als Amtssprache zugelassen wird.

Darstellung der Vorjudikatur zu Art7 Z3 Satz 1 StV von Wien
(VfSlg. 9744/1983, 9752/1983, 9801/1983; B482/82 29.9.1983).

Unmittelbare Anwendbarkeit des Art7 Z3 Satz 1 leg.cit.

Eine Bestimmung eines Staatsvertrages ist unmittelbar anwendbar,
wenn sie sich "ihrem Inhalt nach an die Rechtsunterworfenen oder
an die Vollzugsorgane des Staates" richtet (Walter, Die
Neuregelung der Transformation völkerrechtlicher Verträge in das
österreichische Recht, ÖJZ 1964, 449 ff, insbesondere 450). Sie
muß unmittelbare Grundlage für einen individuellen Verwaltungsakt
oder für ein Urteil sein können. Hiezu bedarf es eines gewissen
Maßes an Präzision (vgl. Khol, Die europäische Sozial-Charta und
die österreichische Rechtsordnung, JBl 1965, 75 ff, insbesondere
81; Öhlinger, Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen,
Wien 1978, 55; Gröhs-Herbst, Die Interpretation von
Doppelbesteuerungsabkommen als Problem der Auslegung von
völkerrechtlichen Verträgen im nationalen Recht, ZfV 1986/1,
16 ff; ua).

Im Schrifttum wird auch auf den subjektiven Aspekt des Problems
hingewiesen. Hiebei kommt es darauf an, daß "der Wille der
Vertragsparteien auf die Anwendung des Vertrages durch Gerichte
und Verwaltungsbehörden ohne Einschaltung staatlicher
Rechtssetzung gerichtet ist" (Verdross-Simma, Universelles
Völkerrecht, 2. Auflage, 442; vgl. auch Gröhs-Herbst, aaO, 20).

Dieser Wille der Vertragspartner ist aus den Materialien zum
Staatsvertrag erkennbar. In den EB zur RV (517 BlgNR VII. GP,
S 3) heißt es zu Art7 Z3 erster Satz:

"Diese Bestimmung bedarf keiner näheren Ausführungsgesetzgebung
mehr; sie ist unmittelbar anwendbar."

Der Verfassungsgerichtshof verkennt nicht, daß die Anwendung des
ersten Satzes des Art7 Z3 des Staatsvertrages von Wien im
Einzelfall schwierig sein kann. Diese Schwierigkeiten sind jedoch
nicht derart gravierend, daß diese Bestimmung unvollziehbar wäre.
Dies zeigen auch die Ausführungen Unkarts (in: Ein Beitrag zur
Auslegung des Art7 des Staatsvertrages 1955, ÖJZ 1974, 91 ff,
insbesondere 94), der zwar auf Auslegungsschwierigkeiten
hinweist, aber bestätigt, daß die unmittelbare Anwendung dieser
Bestimmung des Staatsvertrages "seit 1955 der Verwaltungspraxis
der Krnt. Landesverwaltung und seit einigen Jahren auch der der
Bundesverwaltung" entspricht.

Die Feststellung, ob im Einzelfall ein Verfahrensbeteiligter, der
die Verhandlung in einer Minderheitensprache verlangt,
Angehöriger einer Minderheit ist, erübrigt sich. Es kann sich
nämlich in den in Art7 Z3 des Staatsvertrages von Wien
bezeichneten Gebieten jedermann, der in der Sprache der
Minderheit verhandeln will, ohne Nachweis seiner Zugehörigkeit zu
einer Minderheit der Sprache der Minderheit bedienen. Diese
Auslegung entspricht auch dem Grundgedanken des
Minderheitenschutzes, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Volksgruppe nicht in jedem einzelnen Verfahren nachweisen zu
müssen, was unter Umständen zu einer Diskriminierung führen
könnte. Das VolksgruppenG geht von dem gleichen Verständnis aus.
In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Diskriminierungsverbot (§1
Abs3, zweiter Satz) bestimmt das VolksgruppenG, daß keine
Person verpflichtet ist, ihre Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe
nachzuweisen (§1 Abs3, dritter Satz). Die RV zum VolksgruppenG
(217 BlgNR  XIV. GP) weist ausdrücklich darauf hin, daß die
Bestimmung (§1 Abs4 der RV) "im Sinne der
Nichtdiskriminierung" zu verstehen sei.

Nur auf den ersten Blick erscheint es, als sei die Feststellung,
was ein Gebiet mit gemischter Bevölkerung ist, nur bei Nachweis
der Zugehörigkeit einer größeren Zahl der dort wohnenden Personen
zur Minderheit möglich. In Wahrheit kann und muß bei dieser
Feststellung von einer vergröberten statistischen Erfassung
ausgegangen werden, die Einzelnachweise nicht erfordert. Eine
Behörde, die bei unmittelbarer Anwendung des Staatsvertrages von
Wien festzustellen hätte, ob sie in einem gemischtsprachigen
Gebiet liegt, steht vor demselben schwierigen, aber nicht
unlösbaren Problem, wie der Verfassungsgerichtshof, wenn er eine
nach §2 Abs1 VolksgruppenG erlassene Verordnung nach Art139
B-VG auf ihre Gesetzmäßigkeit überprüfen müßte, zumal das
VolksgruppenG auch keine Bestimmung darüber trifft, was unter
einem Verwaltungs- oder Gerichtsbezirk mit gemischter Bevölkerung
zu verstehen ist. Es heißt in §2 Abs2 VolksgruppenG bloß, daß
"bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen", also im
wesentlichen die Bestimmungen des Staatsvertrages von Wien, zu
berücksichtigen sind. Damit hatte auch die Bundesregierung bei
Erlassung der Verordnung BGBl. 307/1977 in bezug auf wesentliche
Determinanten für die Verordnungserlassung, insbesondere auch in
bezug auf die Feststellung des Gebietes mit gemischter
Bevölkerung, unmittelbar Art7 Z3 erster Satz des
Staatsvertrages angewendet. Die Bestimmung des VolksgruppenG,
wonach "auf die zahlenmäßige Größe der Volksgruppe, die
Verbreitung ihrer Angehörigen im Bundesgebiet, ihr
größenordnungsmäßiges Verhältnis zu anderen österreichischen
Staatsbürgern in einem bestimmten Gebiet sowie auf ihre
besonderen Bedürfnisse und Interessen zur Erhaltung und Sicherung
ihres Bestandes Bedacht zu nehmen" ist, ist in bezug auf die hier
zu beantwortende Frage von keinem höheren Bestimmtheitsgrad als
der Staatsvertrag selbst.

Die Schwierigkeiten bei der Auslegung des Art7 Z3 des
Staatsvertrages von Wien mögen es zweckmäßig erscheinen lassen,
Ausführungsbestimmungen in Gesetzen oder Verordnungen zu
erlassen. Dieser Umstand nimmt der staatsvertraglichen Bestimmung
jedoch nicht den Charakter der unmittelbaren Anwendbarkeit in
jenen Bereichen, die nicht von Ausführungsbestimmungen umfaßt
sind. Es ist dem Gesetzgeber unbenommen - auch bei unmittelbarer
Anwendbarkeit von Bestimmungen des Staatsvertrages - gesetzliche
Regelungen zu beschließen, die der Sicherstellung einer
gleichmäßigen und effektiveren Gewährleistung der im
Staatsvertrag normierten Minderheitenrechte dienen. Insoweit also
das VolksgruppenG die sich aus dem Staatsvertrag für die
Minderheiten ergebenden Rechte wiederholt und bestärkt ist es als
AusführungsG zum Staatsvertrag zu werten und steht mit diesem
nicht in Widerspruch.

Da die Bestimmung des Art7 Z3 des Staatsvertrages von Wien
jedoch Verfassungsrang genießt, ist es dem einfachen Gesetzgeber
verwehrt, eine dieser Bestimmung widersprechende Regelung zu
treffen.

Während die Verordnungsermächtigung des §2 Abs1 des
VolksgruppenG zunächst - isoliert betrachtet - nur eine nähere
Präzisierung der Minderheitenrechte in bezug auf die Verwendung
dieser Sprache als Amtssprache ermöglicht, wird sie durch den
Zusammenhang mit §13 des VolksgruppenG in Wahrheit zu einer
Einschränkung dieser Rechte. Nach §13 Abs2 leg.cit. ist der
Gebrauch der Sprache der Volksgruppe nämlich von der Erlassung
einer Verordnung der Bundesregierung abhängig, die die Behörden
und Dienststellen bezeichnet, bei denen man sich einer
Minderheitensprache bedienen kann. Solange eine solche Verordnung
nicht erlassen wird, ist die in Art7 Z3 des Staatsvertrages
von Wien angeordnete Zulassung der Minderheitensprache als
Amtssprache ausgeschlossen.

Der Verfassungsgerichtshof zweifelt nicht daran, daß es im
Burgenland Gebiete iSd Art7 Z3 Satz 1 des Staatsvertrages
gibt. Es kommt es auch nicht darauf an, ob einzelne
Volksgruppenverbände Interesse an der Verwendung des Kroatischen
als Amtssprache zum Ausdruck bringen oder nicht. Es genügt, wenn
einzelne Angehörige der Volksgruppe ihr verfassungsgesetzlich
gewährleistetes Recht in Anspruch nehmen wollen. Aus den obigen
Darlegungen ergibt sich daher, daß jene Bestimmungen des §13 des
VolksgrupppenG verfassungswidrig sind, die die Verwendung der
kroatischen Minderheitensprache in Gebieten mit kroatischer oder
gemischter Bevölkerung ausschließen, solange keine Verordnung
nach §2 Abs1 Z3 des VolksgruppenG erlassen ist.

Die Worte "gemäß §2 Abs1 Z3 bezeichneten" in Abs1 und der
Satzteil ", soweit sie durch eine Verordnung nach §2 Abs1 bei
dieser Behörde oder Dienststelle zugelassen ist" in Abs2 des
§13 des VolksgruppenG, BGBl. 396/1976, werden wegen Verletzung
des Art7 Z3 erster Satz des StV von Wien als verfassungswidrig
aufgehoben.

Der verfassungsmäßige Zustand kann durch Erlassung einer alle
Fälle des Art7 Z3 erster Satz des Staatsvertrages umfassenden
Verordnung nach §2 Abs1 VolksgruppenG unter Wiedereinführung
der aufgehobenen Stellen des §13 VolksgruppenG hergestellt
werden. Solange aber eine solche Verordnung nur für die
Verwendung des Slowenischen erlassen ist (Verordnung BGBl.
307/1977, die durch dieses Erk. unberührt bleibt), besteht der
verfassungsmäßige Zustand darin, daß sich als Folge der Aufhebung
der im Spruch dieses Erk. genannten Stellen das Recht zur
Verwendung des Kroatischen als Amtssprache unmittelbar aus dem
Staatsvertrag ableitet und von den Behörden zu beachten ist.

Wegen der besonderen Bedeutung des Staatsvertrages von Wien und
des in Art7 leg.cit. gewährten Schutzes von Minderheiten hat
der Verfassungsgerichtshof von der Setzung einer Frist für das
Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstellen abgesehen,
zumal die Verwirklichung des Grundrechtes gewährleistet ist ohne
daß es hiezu erst gesetzlicher Vorkehrungen oder der Erlassung
einer Verordnung nach §2 Abs1 des VolksgruppenG bedürfte.

 

Source: www.ris.bka.gv.at